Kryokonservierung in der Langlebigkeitsszene: Irrweg oder echte Chance?
Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit selbst. In unserer modernen Zeit hat er jedoch eine neue, technologische Dimension angenommen: die Kryokonservierung. Was lange Zeit als Stoff für Science-Fiction-Filme galt, ist heute eine real existierende Praxis, bei der Menschen nach ihrem Tod in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius konserviert werden. Anhänger der Langlebigkeitsszene, auch Transhumanisten genannt, sehen darin eine Möglichkeit, der Endgültigkeit des Todes zu entkommen und auf eine zukünftige Wiederbelebung zu hoffen. Doch was sagt die Wissenschaft dazu? Handelt es sich um eine fundierte medizinische Chance oder um eine teure Spekulation, die eher dem Geschäftsmodell von Start-ups dient als der Wissenschaft? Dieser Artikel beleuchtet die Fakten, analysiert aktuelle Studien und ordnet die Kryonik in ihren wissenschaftlichen Kontext ein.
Inhaltsverzeichnis
ToggleDie wissenschaftlichen Grundlagen und der Unterschied zur Kryomedizin
Um die Kryokonservierung von Menschen zu verstehen, muss man zunächst zwischen zwei unterschiedlichen Feldern differenzieren: der Kryomedizin und der Kryonik. Die Kryomedizin ist ein etabliertes, klinisch angewandtes Feld, das sich mit der Konservierung von biologischem Material bei sehr niedrigen Temperaturen befasst. Hierbei geht es um Zellen, Gewebe, Spermien, Eizellen und Embryonen. Studien wie die Arbeit von Fahy et al. aus dem Jahr 2009 haben insbesondere die erfolgreiche Kryokonservierung und Wiederbelebung einer Kaninchenniere demonstriert, die nach dem Auftauen in das Tier zurücktransplantiert wurde und ihre Funktion wiederaufnahm. Auch die Arbeit von Mazur aus dem Jahr 1963 ist grundlegend, da sie zeigte, dass eine langsame Abkühlung und das Austreten von Wasser aus den Zellen das tödliche intrazelluläre Einfrieren verhindern können. Diese Techniken sind heute Standardverfahren in der Reproduktionsmedizin, der Gewebebanken und bei der Konservierung von Stammzellen.
Die Kryonik hingegen, also die Kryokonservierung eines gesamten menschlichen Körpers oder Gehirns, ist ein vollkommen anderes Unterfangen. Sie findet nicht an lebenden Patienten statt, sondern erst nach dem juristischen Tod. Das erklärte Ziel ist nicht, die Lebensfunktion sofort wiederherzustellen, sondern sie lediglich zu pausieren, bis zukünftige, heute bisher nicht existierende Technologie eine Wiederbelebung und Heilung der ursprünglichen Todesursache möglich macht. Die wissenschaftliche Gemeinschaft betrachtet die Kryonik daher mehrheitlich mit großer Skepsis und stuft sie als eine spekulative Praxis ein, da es bis heute keinerlei Beweise für die Möglichkeit einer Wiederbelebung gibt.
Die Herausforderungen der Vitrifizierung
Das größte Problem bei der Kryokonservierung ist die Bildung von Eiskristallen. Wenn Wasser gefriert, dehnt es sich aus und bildet scharfkantige Kristalle, die die Zellstrukturen irreparabel zerstören. Um dies zu verhindern, wird die Kryonik-Prozedur, die idealerweise unmittelbar nach Feststellung des Hirntods beginnen sollte, in einem komplexen Prozess durchgeführt. Dabei wird das Blut des Körpers durch eine Mischung aus Chemikalien, den sogenannten Kryoprotektoren, ersetzt. Diese Chemikalien, die auch in der Natur bei manchen Lebewesen wie dem Waldfrosch vorkommen, wirken wie ein medizinisches Frostschutzmittel. Sie ermöglichen die sogenannte Vitrifizierung, die Verwandlung der Körperflüssigkeiten in einen glasartigen, amorphen Zustand, ohne dass sich Eiskristalle bilden.
Diese Technik funktioniert bei kleinen Zellproben hervorragend. Bei einem komplexen, multi-organischen System wie dem menschlichen Körper stößt sie jedoch an ihre Grenzen. Eine der Herausforderungen liegt in der Toxizität der Kryoprotektoren. Um eine vollständige Vitrifizierung zu erreichen, müssen sie in sehr hohen Konzentrationen eingesetzt werden, die für lebende Zellen giftig wären. Zudem ist es extrem schwierig, die Chemikalien gleichmäßig in alle Gewebe und Organe zu verteilen, insbesondere im Gehirn, wo empfindliche neuronale Strukturen geschützt werden müssen.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Geschwindigkeit. Das Zeitfenster zwischen dem gesetzlichen Tod und dem Beginn der Prozedur ist sehr schmal. Während dieser Zeit, auch Ischämie genannt, wird das Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, und es treten irreversible Schäden auf. Kryoniker argumentieren, dass die Schäden, die in dieser kurzen Zeit entstehen, sowie die Schäden durch die Vitrifizierung selbst, in Zukunft mit nanotechnologischen und regenerativen Methoden repariert werden könnten. Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Studien, die diese Hypothese stützen.
Ein deutsches Startup im Kryonik-Markt: Tomorrow Bio
In Europa treibt das Berliner Start-up Tomorrow Bio die Kryonik-Bestrebungen voran. Das Unternehmen, gegründet von dem Arzt und ehemaligen Krebsforscher Dr. Emil Kendziorra und dem Ingenieur Fernando Azevedo Pinheiro, positioniert sich als Pionier auf dem Kontinent. Tomorrow Bio bietet eine Dienstleistung an, die ein „Stand-by, Stabilisation and Transport“-Team (SST) umfasst, das sofort nach dem juristischen Tod des Patienten eingreift. Ihr Ziel ist es, die Ischämie-Zeit so kurz wie möglich zu halten, indem sie den Körper kühlen und die Perfusion mit Kryoprotektoren einleiten. Die langfristige Lagerung der Patienten erfolgt nicht in Deutschland, sondern in Zusammenarbeit mit der European Biostasis Foundation (EBF) in der Schweiz, einer unabhängigen, gemeinnützigen Stiftung. Dies soll eine unbegrenzte Aufbewahrung gewährleisten. Die Finanzierung der Kryokonservierung wird häufig über eine Lebensversicherung realisiert, was sie für eine größere Gruppe von Menschen zugänglich machen soll, obwohl die Gesamtkosten für eine Ganzkörperkonservierung mehrere hunderttausend Euro betragen können. Das Unternehmen hat Verträge im Wert von mehreren Millionen Euro abgeschlossen und plant eine Expansion in die USA, was das wachsende kommerzielle Interesse an dieser spekulativen Praxis verdeutlicht.
Aktuelle Forschung und ihre Relevanz für die Kryonik
Die Kryonik-Unternehmen und ihre Befürworter verweisen häufig auf aktuelle Forschungsergebnisse, um die Machbarkeit ihres Ziels zu untermauern. So wird oft die bereits erwähnte erfolgreiche Kryokonservierung einer Kaninchenniere von Fahy et al. zitiert. Die Studie zeigt, dass eine komplexe Struktur wie ein Organ erfolgreich vitrifiziert und wiederbelebt werden kann. Kritiker entgegnen jedoch, dass eine Kaninchenniere im Vergleich zum menschlichen Gehirn oder einem ganzen Körper eine relativ einfache Struktur darstellt und die logistischen Herausforderungen bei einem lebenden Organismus ungleich größer wären.
Eine weitere oft zitierte Arbeit ist die von Vita-More & Barranco, die die Kryokonservierung und Wiederbelebung des Wurms C. elegans untersuchten. Die Studie zeigte, dass der Wurm nicht nur den Prozess überlebte, sondern auch seine Erinnerungen behielt, was darauf hindeuten könnte, dass die neuronalen Strukturen, in denen Erinnerungen gespeichert sind, intakt bleiben können. Auch hier ist Vorsicht geboten: Der Wurm ist ein sehr primitives Lebewesen, dessen Nervensystem bei weitem nicht mit der Komplexität eines menschlichen Gehirns vergleichbar ist.
Die Fortschritte in der Neurokonservierung sind ebenfalls von großer Bedeutung. Einige Studien deuten darauf hin, dass es möglich sein könnte, Gehirngewebe über die Vitrifizierung zu konservieren, ohne die neuronalen Strukturen zu beschädigen. Eine Studie von McIntyre & Fahy zeigte, dass die aldehydstabilisierte Kryokonservierung eine praktikable Methode zur Konservierung von Nervengewebe ist. Dies wird als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen, beweist jedoch nicht, dass ein komplettes menschliches Gehirn mit seinen Billionen von Synapsen auf diese Weise ohne bleibende Schäden konserviert werden könnte, geschweige denn, dass es wiederbelebt werden kann.
Kryonik als „Versicherung“ für die Zukunft
Ein zentrales Argument der Kryonik-Anhänger ist das sogenannte „Pascal’s Wager“, ein Argument, das ursprünglich im religiösen Kontext verwendet wurde. Es besagt, dass die potenziellen Vorteile der Kryokonservierung die Risiken bei weitem überwiegen. Selbst wenn die Chance einer Wiederbelebung nur bei 1 % läge, wäre die potenzielle Belohnung – ein zweites Leben – so groß, dass es die Investition rechtfertigen würde. Proponenten sehen die Kryonik daher nicht als eine sichere Wette, sondern als eine Art Notfallplan oder eine „Versicherung“ gegen den Tod.
Gleichzeitig gibt es keine Garantie dafür, dass die Kryonik-Unternehmen in hundert Jahren noch existieren, dass die Technologie jemals entwickelt wird oder die Gesellschaft der Zukunft in der Lage oder willens wäre, konservierte Menschen wiederzubeleben. Es existieren zudem ethische und moralische Fragen: Was wäre der rechtliche Status eines wiederbelebten Menschen? Wer wäre für ihn verantwortlich? Wie würde er sich in einer völlig veränderten Welt zurechtfinden? Die hohen Kosten für die Kryokonservierung, die oft über eine Lebensversicherung finanziert werden, sind ein weiterer Aspekt, der kritisch betrachtet werden muss. Die Kosten für eine Ganzkörperkonservierung können mehrere hunderttausend Euro betragen. Dies macht die Praxis zu einem Privileg für Reiche und wirft die Frage nach der Gerechtigkeit auf.
Journalistische Einordnung und Ausblick
Aus wissenschaftsjournalistischer Sicht ist es von größter Wichtigkeit, die Kryonik sachlich und neutral darzustellen. Es handelt sich nicht um eine Heilmethode und auch nicht um eine anerkannte medizinische Behandlung. Es ist ein Spekulationsgeschäft, das auf der Hoffnung auf zukünftige technologische Fortschritte aufbaut. Die bisherigen Studien, die oft von Kryonik-Unternehmen selbst oder von verwandten Organisationen publiziert werden, sind vielversprechend im Kontext der Kryomedizin, lassen sich aber nicht direkt auf die Kryonik übertragen.
Die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin, der Transplantationschirurgie und der Neurologie sind beeindruckend und zeigen, dass die Kryotechnologie ein wichtiges Werkzeug in der modernen Medizin ist. Sie beweisen aber nicht, dass die Konservierung und Wiederbelebung eines komplexen Organismus wie des Menschen möglich sind. Derzeit gibt es keine einzige wissenschaftlich anerkannte Studie, die dies belegen könnte. Aus diesem Grund muss der Begriff „Wiederbelebung“ immer im Konjunktiv verwendet werden. Es könnte sein, dass in einer fernen Zukunft die Wissenschaft so weit fortgeschritten ist, dass sie die heutigen Herausforderungen überwinden kann. Sicher ist dies jedoch nicht. Die Kryokonservierung bleibt eine faszinierende Idee, die die Grenzen von Leben und Tod auslotet. Sie ist ein Spiegelbild unserer Sehnsucht nach Unsterblichkeit und unserer Hoffnung auf technologische Lösungen für die größten Probleme der Menschheit. Doch solange es keine fundierten, unabhängigen wissenschaftlichen Beweise gibt, bleibt sie ein spekulatives Unterfangen, das weit mehr mit Glauben als mit gesicherter Wissenschaft zu tun hat.
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