Inflammaging: Alterungsbedingte Entzündung ist kein universelles Phänomen

Longevity28. Juli 20251.4K Views

Senioren glücklich und gesund

Was ist inflammaging – und warum war es bisher so wichtig?

Der Begriff „inflammaging“ setzt sich zusammen aus „inflammation“ (Entzündung) und „aging“ (Altern) – er beschreibt eine leise, chronische Entzündung, die sich mit zunehmendem Alter im Körper ausbreitet. Diese Entzündung ist nicht so offensichtlich wie eine akute Infektion mit Fieber, sondern verläuft oft unbemerkt. Trotzdem kann sie großen Schaden anrichten.

Bisher dachten Wissenschaftler, dass inflammaging ein universelles Merkmal des Alterns ist – also bei jedem Menschen auftritt, egal, wo oder wie er lebt. Studien aus Europa, den USA und Ostasien zeigten immer wieder: Im Alter steigen bestimmte Entzündungsmarker im Blut an. Und je höher diese Werte, desto wahrscheinlicher sind typische Alterskrankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes oder Nierenschwäche.

Die neue Studie stellt diese Annahme infrage. Denn sie zeigt: In anderen Teilen der Welt – etwa bei indigenen Bevölkerungen im Amazonas oder in Malaysia – gibt es diese stille Entzündung im Alter überhaupt nicht. Zumindest nicht in der bekannten Form.

Was hat die Studie zum inflammaging untersucht – und wie ging man vor?

Das internationale Forschungsteam analysierte Blutproben von älteren Menschen aus vier sehr unterschiedlichen Bevölkerungen:

Zwei Gruppen lebten in hoch entwickelten, industrialisierten Ländern: Senioren aus Italien und Singapur.

Zwei Gruppen kamen aus nichtindustriellen Lebensverhältnissen: die Tsimane, ein indigenes Volk im bolivianischen Regenwald, und die Orang Asli aus Malaysia.

Bei allen Probanden wurden 19 verschiedene Entzündungsstoffe im Blut untersucht – sogenannte Zytokine. Diese Moleküle sind eine Art „Sprache“ des Immunsystems: Sie melden, wenn etwas im Körper nicht stimmt.

Die Forscher wollten wissen: Steigen diese Zytokinwerte mit dem Alter an? Gibt es dabei Unterschiede zwischen den vier Gruppen? Und wenn ja – was bedeuten diese Unterschiede für unsere Sicht auf das Altern?

Was kam heraus? Die Ergebnisse im Überblick

Die Ergebnisse waren eindeutig – und überraschend:

In industrialisierten Gesellschaften wie Italien und Singapur zeigte sich das erwartete Bild: Mit zunehmendem Alter stiegen viele Entzündungsmarker im Blut an. Gleichzeitig war dieser Anstieg klar mit Alterskrankheiten verbunden – also etwa mit Herzproblemen, Nierenversagen oder Zuckerkrankheit.

In den indigenen Bevölkerungen hingegen sah alles anders aus: Die Entzündungswerte waren zwar insgesamt hoch – aber sie stiegen nicht mit dem Alter an. Und vor allem: Sie waren nicht mit chronischen Alterskrankheiten verbunden. Vielmehr waren sie Ausdruck akuter Infektionen, etwa durch Parasiten, die in diesen Regionen häufig auftreten.

Das bedeutet: Entzündung ist dort eher eine kurzfristige Reaktion auf Infektionen – kein Zeichen des Alterns. Und altersbedingte Krankheiten, wie wir sie kennen, kommen in diesen Gesellschaften ohnehin viel seltener vor.

Was heißt das für unser Verständnis von Alterung und Longevity?

Bislang dachte man, dass inflammaging eine Art Grundgesetz des Alterns sei – ein biologischer Prozess, der bei jedem Menschen abläuft. Die neue Studie zeigt: Das stimmt so nicht.

Ob und wie stark jemand eine chronische Entzündung im Alter entwickelt, hängt offenbar stark davon ab, wie und wo er lebt. Umwelt, Lebensstil und Ernährung spielen eine entscheidende Rolle.

In westlichen Gesellschaften ist das Leben oft von Bewegungsmangel, ungesunder Ernährung, Luftverschmutzung und chronischem Stress geprägt. All das kann das Immunsystem in einen dauerhaften Alarmzustand versetzen. In natürlichen, weniger industrialisierten Lebenswelten – mit viel Bewegung, gesunder Nahrung und Kontakt zur Natur – scheint dieser Prozess gar nicht erst aufzutreten.

Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem „evolutionären Missverhältnis“: Unser Immunsystem ist nicht für das moderne Leben gemacht – und reagiert darauf mit Entzündung. In nichtindustriellen Gesellschaften bleibt das Immunsystem hingegen besser reguliert.

Welche Folgen hat das für Medizin und Langlebigkeitsforschung?

Die Erkenntnisse aus dieser Studie sind ein Weckruf für die Medizin – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht:

  1. Kein One-size-fits-all bei Diagnostik: Die Entzündungsmarker, die wir zur Diagnose oder Risikoabschätzung nutzen, funktionieren nicht überall gleich. Was in Europa als Risiko gilt, muss in anderen Regionen keine Bedeutung haben. Medizinische Tests sollten daher immer den Lebenskontext der Patientinnen und Patienten berücksichtigen.
  2. Prävention neu denken: Wenn stille Entzündungen kein biologisches Schicksal sind, sondern ein Produkt unseres Lebensstils – dann können wir etwas dagegen tun. Gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung, Stressabbau und gute Schlafhygiene werden noch wichtiger.
  3. Forschung globaler gestalten: Viele Erkenntnisse der Altersmedizin stammen aus reichen Industrienationen. Um das Altern wirklich zu verstehen, benötigen wir mehr Studien mit Menschen aus verschiedenen Lebenswelten – primär aus ländlichen und traditionellen Gesellschaften.
  4. Therapieansätze gezielter entwickeln: Medikamente gegen Inflammaging könnten künftig sinnvoll sein – aber nur dort, wo das Problem wirklich besteht. In anderen Gesellschaften wären sie überflüssig oder sogar schädlich.

Altern ist nicht gleich Altern

Die Studie „Nonuniversality of Inflammaging“ zeigt eindrücklich: Die stillen Entzündungen, die bei uns als typisch fürs Alter gelten, sind kein weltweites Phänomen. Sie entstehen vorwiegend dort, wo moderne Lebensweise das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringt.

Für uns heißt das: Altern ist formbar. Wer gesund leben will, sollte nicht nur auf Fitness und Ernährung achten, sondern auch auf die feinen Prozesse des Körpers – und darauf, sie zu beruhigen. Inflammaging ist nicht unvermeidlich – es ist vermeidbar. Und das ist eine gute Nachricht.

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